
Verkehrsverpuffung am Ostkreuz

Live zu erleben im Ostkreuz-Kiez: Die Verkehrsverpuffung!
Das klingt witzig. Ist aber erstaunlich: Verkehr ist nicht immer da, sondern verringert sich. Und zwar dann, wenn er etwas unbequemer wird, so dass Alternativen besser erscheinen. Und genau das passiert gerade im Ostkreuz-Kiez, obwohl erst die ersten Maßnahmen des Verkehrsberuhigungskonzepts des Bezirk umgesetzt sind.
Unerwartet schneller Effekt
Die Verpuffung wird - das klingt etwas sachlicher - auch Traffic Evaporation ("Verkehrsverdampfung") genannt. Vielfach bewiesen: Obwohl es nicht sofort intuitiv ist. Auch wir glaubten früher - weil es so naheliegend ist - dass Verkehr sich bei Erschwerung eines Wegs einfach einen anderen Weg sucht. Denn: Mobilität muss ja sein. Aber genau das stimmt so nicht. Und das ist eigentlich auch logisch:
- Verlagerung von Verkehr findet nicht nur in eine andere Straße statt. Auch auf andere Verkehrsmittel kann das erfolgen. Ist etwa die Autofahrt nicht mehr ganz so einfach, wird in dafür geeigneten Fällen eben der Bus, die Bahn, das Rad, der Roller oder das Paar Schuhe genommen.
- Ziele werden stärker nach wirtschaftlichen Aspekten gewählt, wenn die Kosten der Fahrt (auch Zeit) steigen. Sprich: Die Fahrt geht eher zum nächstgelegenen Supermarkt anstelle des vielleicht etwas größeren Supermarkts weiter weg. Zum Beispiel.
- Es gibt Fahrten, die werden nur durchgeführt, weil sie einfach möglich sind. Nicht, weil sie sein müssen. Diese entfallen zum Teil, wenn es schwieriger wird, sie durchzuführen. Ohne negative Effekte. Zum Beispiel die gedankenlose zweite Fahrt zum Supermarkt, weil etwas vergessen wurde. Beim nächsten Mal wird gleich ein Einkaufszettel geschrieben oder die vergessene Sache einfach bei den Nachbarn geborgt. Zum Beispiel.
Bis solche Effekte eintreten, dauert es eigentlich immer länger. Es erfordert Umgewöhnung, wie jede Veränderung. Die Routenplaner der Navigationssysteme müssen die neuen Situationen verarbeiten. Es müssen sich eventuell auch noch neue Optionen etablieren, die Mobilität zu erledigen. Aber klar: Menschen handeln im Normalfall rational.
Nach der Sperrung der Gärtnerstraße hatten wir tatsächlich die Sorge des Ergießens von Verkehr in die Nebenstraßen. Und in der Tat war das einige Tage, einige Wochen stärker zu beobachten. Doch nun: Wie von Zauberhand ist auch dort nicht mehr signifikant mehr los als vorher. Nun hat unser Kiez auch perfekte Bedingungen für das Umgewöhnen (einen guten Nahverkehr, Möglichkeiten für Fuß-, Roller- und Radfortbewegung, Leihfahrräder und mehr). Aber auch wir sind beeindruckt: So deutlich hatten wir das so schnell nicht erwartet.
Gesündere Luft, weniger Gefahr, kaum Einschränkungen
So ist der Verkehr insgesamt reduziert. Auch auf den weiteren Ausweichrouten ist nun nicht einfach mehr Verkehr. Zum Teil können wir das mit unseren (leider nicht so vielen) Zählstellen sogar nachprüfen. Zum Beispiel beim Verkehrstracker an der Gärtnerstraße, die nun Fahrradstraße mit Einbahnstraßenregelung für Autos ist.
Dieser zeigte in zwei Wochen im April 2024 diese Werte - verglichen mit den gleichen zwei Wochen im März und April 2025.
Der Anteil der Radfahrenden stieg in den beiden betrachteten Zeiträumen von rund 30 auf 80 Prozent. Zu Fuß Gehende werden leider vom System nicht vollständig erfasst*, aber auch hier sehen wir: Eine mehr als deutliche Verdoppelung.
Die Menge der PKWs und LKWs an dieser Zählstelle ist von rund 52.000 bzw. 68.000 in den zwei Wochen im März/April 2024 auf rund 6.900/7.000 in 2025 (je zwei Wochen) zurückgegangen. Das bedeutet: Rund 45-60.000 Fahrzeuge müssten nun in den anderen Straßen mehr fahren, und zwar in eben diesen zwei Wochen. Weder die vorhandenen Zählstellen noch der Augenschein zeigt eine solche Erhöhung auf den umliegenden Straßen (z.B. Wühlschstraße) oder auch den weiter entfernt gelegenen Umfahrungsstraßen (z.B. Warschauer Straße).
Im Gegenteil: An der Zählstelle in der Wühlischstraße sind die Zahlen der PKWs und LKWs ebenfalls sehr sehr stark gesunken. In der betrachteten Woche sehr stark, allerdings gab es in dieser auch eine Baustelle in der Nähe. Selbst bei Auswahl eines Zeitraums ohne Baustelle, sind die Zahlen signifikant niedriger. Und das auf einer Route, die als Ausweichroute oder Umweg von Anwohnenden mit PKWs gewählt werden würde.
Das bedeutet: Bessere Luftqualität, weniger Feinstaub, mehr Verkehrssicherheit und im Durchschnitt nur 5-10 Minuten längere Wege per PKW. Gleichzeitig steigen noch mehr auf Fuß und Rad um, was auch nicht ungesund ist.
Glücksfall in Vorbereitung auf die A100
Aus Sicht der geplanten Autobahneröffnung kann das für die Verkehrsplanenden in Berlin nur als Glücksfall gelten. Die A100 soll trotz fehlendem umliegenden Verkehrskonzept 2025 eröffnet werden, was allerdings ein eigenes größeres Thema ist.
Im Kiez und um Kiez-Durchgangsverkehr haben sich die Verkehrsverpuffungsprozesse schon etabliert, so dass sich das positiv auf die zukünftigen Verkehrsnutzungen auswirken wird. Weniger Staus für Menschen in den PKWs und LKWs, weniger nicht notwendige Durchfahrten mit diesen Fahrzeugen. Das freut nicht nur die Anwohnenden, die Kinder in den Schulen und Kindergärten und ältere Menschen, die sich zu Fuß sicher und gesund durch den Kiez begeben wollen. Sondern auch die Menschen, die als Pendler nicht in einen absehbaren Verkehrskollaps geführt werden. Richtig gut!
Und das alles, obwohl das "runde Paket" der Verkehrsberuhigungsmaßnahmen noch gar nicht umgesetzt ist und sich noch manche ungewollter Nebeneffekt einstellt, weil z.B. die Fahrradstraße nicht durchgängig ist und nicht alle Schleichwege eingeschränkt sind.
Verpuffung für mehr Sicherheit, Gesundheit und Zukunftsfähigkeit des Kiezes
So ungewohnt die neuen Verkehrsführungen auch sind. So ungewohnt manche Veränderung im Mobilitätsverhalten auch sein mögen. So groß manche Aufregung mancher Verkehrsteilnehmenden insbesondere in den ersten Wochen und Monaten nach den Umbauten auch waren: Die Verkehrsverpuffung ist da. Der Verkehr verändert sich zum Vorteil aller. Noch nicht überall perfekt, klar. Radwege holpern noch, mancher PKW-Umweg ist noch ungewohnt, nicht immer ist ganz klar, was wo und warum passiert.
Unser Kiez hat eine Veränderung im Verkehr geschafft, der schneller und positiver ist, als zu erwarten war. Weiter so, konstruktiv, mit Mut zur Veränderung!
*Anmerkung in Bezug auf die Zählung von zu Fuß gehenden Menschen: Die Telraam-Zählstellen haben leider keinen vollen Blick auf beide Bürgersteige, auch Bäume sind hinderlich. Daher sind die Zahlen für Bürgersteige mit Zurückhaltung zu bewerten. Mehr zur Zählweise zum Beispiel unter https://berlin.adfc.de/artikel/berlin-zaehlt-mobilitaet-adfc-berlin-dlr-rufen-zu-citizen-science-projekt-auf-1
Nachtrag am 5.5.2025: Wir haben noch einen zweiten Zeitraum ergänzt, den Ferieneffekt auch zu berücksichtigen.